Nie wieder Krieg spielen

(von Gudrun Pausewang)

Onkel Bernhard war wieder mal auf Besuch da. Florian mochte ihn gern.
Onkel Bernhard war fünfzehn Jahre älter als Florians Vater und hatte schon graues Haar.
Mit ihm war es nie langweilig, obwohl er nur einen Arm hatte. Den anderen hatte er
im letzten Krieg verloren.

Am Sonntagvormittag gingen sie zusammen angeln. Aber ein Gewitter mit
einem gewaltigen Regen trieb sie heim. Am Nachmittag, als die ganze Familie
vor dem Fernseher saß, zwinkerten Onkel Bernhard und Florian einander
zu und stahlen sich unbemerkt davon.

"Wunderbare Luft hier draußen", sagte Onkel Bernhard, als sie gleich
hinter der Pferdekoppel in den Wald einbogen. "Und was wollen wir jetzt tun?"

"Krieg spielen", antwortete Florian wie aus der Pistole geschossen. Onkel
Bernhard antwortete nicht.

Aber als Florian erwartungsvoll zu ihm aufblickte, fragte er nachdenklich:
"Krieg spielen? Ist denn das schön?"

"Klasse", sagte Florian. "Und ganz bestimmt nicht langweilig."

"Nein, ganz bestimmt nicht", meinte Onkel Bernhard. "Krieg spielen ist wirklich nicht langweilig."
"Man kann andere erschießen und mit dem Panzer über alles
drüberwegfahren und Handgranaten werfen und den Feind überlisten
und gefangennehmen und mit dem Fallschirm abspringen und so richtig
echt raufen", rief Florian begeistert.

Er wunderte sich, daß Onkel Bernhard nicht antwortete.

"Im Krieg kann jeder seinen Mut beweisen", erklärte Florian weiter.
Mann kann ein Held werden. Und man darf so vieles tun, was man
in gewöhnlichen Zeiten nicht darf. Vor allen kann man siegen. Siegen macht Spaß -
oder etwa nicht?"

"Zum Krieg gehören mindestens zwei", sagte Onkel Bernhard.
"Einer der siegt, und einer, der verliert."

"Man darf eben nicht so blöd sein zu verlieren", sagte Florian eifrig.

"Du scheinst den Krieg sehr gut zu kennen", meinte der Onkel.

"Klar", sagte Florian. "Ich schau mir immer die Kriegsfilme an."

"Aha", sagte der Onkel.

"Wenn da der Krieg losgeht, freuen sich meistens alle darauf
und können es gar nicht erwarten", sagte Florian.

"Das stimmt", sagte Onkel Bernhard trübe. "Ich hab mich auch darauf gefreut -
weil ich den Krieg nicht kannte. Ich hab mir ihn so vorgestellt wie in den Filmen:
Die Guten siegen, die Bösen verlieren, die Unschuldigen werden gerettet und
die Schuldigen bestraft. Nicht wahr?"

"Meistens", antwortete Florian unsicher.

"Also gut", sagte Onkel Bernhard, "spielen wir Krieg. Aber ich kenne den Krieg.

Deshalb spiele ich nur ganz echten Krieg, nicht solche Western-Kämpfchen."

"O ja"; rief Florian begeistert, "spielen wir ganz echten Krieg!"

"Ich fürchte, du hast keine Ahnung, was da auf dich zukommt",
sagte der Onkel. "Du wirst anfangen zu weinen."

"Ich?" rief Florian lachend. "Darauf kannst du lange warten!"

"Florian", sagte der Onkel fast feierlich, "ich will dich nicht
zu diesem Spiel überreden. Wenn du Angst bekommst und lieber
etwas anderes spielen willst, werde ich dich nicht feige nennen.
Aber ich warne dich."

"Nur zu, nur zu", jubelte Florian, "ich will Krieg spielen!"

"Wer von uns beiden zuerst sagt: ,Mir langt's!', der hat den Krieg verloren", sagte der Onkel.

"Einverstanden", rief Florian mit blitzenden Augen.

"Abgemacht. Also, es geht los."

"Wir haben aber keine Gewehre", sagte Florian und hob zwei derbe
Äste auf. Einer davon reichte er dem Onkel.

Der verstummte und lauschte mit hochgerecktem Gesicht. Dann schrie er:
"Tiefflieger!", packte Florian am Genick und warf sich mit ihm längelang
in den Schlamm unter eine überhängende Birke.

"Aber Onkel Bernhard", rief Florian, "meine Sonntagshosen!"

"Kopf runter", donnerte der Onkel. "Rin mit dem Kinn in die Sauce.
Beweg dich nicht. Oder willst du, daß sie Hackfleisch aus dir machen?"

Florian tunkte sein Kinn in den Schlamm. Mit einem Auge sah er,
daß auch Onkel Bernhard seine gute Hose anhatte.

"Verdammt, sie kommen zurück!" schrie der Onkel. "Runter in den Graben!"

"Aber der ist doch voll Wasser-" stotterte Florian kläglich.

"Mach schon!" brüllte der Onkel und gab ihm einen groben Stoß. "Oder wir sind hin!"

Florian stolperte mit einem platsch in den Graben, in dem schmutzigbraunes Regenwasser stand.
Das lief ihm in seine Gummistiefel. Es reicht ihn bis zu den Knien.

"Ducken!", schrie ihn der Onkel an. Die sehen dich ja schon aus zehn
Kilometer Entfernung!"

"Ins Wasser?" fragte Florian erschrocken.

Ohne zu antworten, drückte ihn der Onkel an der Schulter herunter.

Florian mußte sich mit dem Hintern ins Wasser hocken. Der Onkel hockte sich neben ihn.

"Die Mama wird schimpfen", jammerte Florian.

"Du hast keine Mama mehr", sagte Onkel Bernhard hart.
"Eine Bombe hat vorhin euren Hof getroffen.
Die Mama war sofort tot. Deiner Oma hat ein Splitter das linke Bein abgerissen.
Sie verblutet jetzt. Dein Vater ist von einem Dachbalken erdrückt worden.
Und dein Opa hat beide Augen verloren. Deine kleine Schwester lebt noch,
aber sie ist unter den Trümmern begraben. Man wird sie nicht finden.
Sie wird da unten elend zugrunde gehen. Du bist jetzt ein Waisenkind,
Florian. Du mußt schauen, wie du allein durch den Krieg kommst.

Raus aus dem Graben, die Flieger sind fort. Aber dort drüben ballert's.
Ich glaube, da schleicht sich feindliche Infanterie heran, um uns den Weg
abzuschneiden. Wir müssen hier weg."

Kaum war Florian triefend aus dem Wasser geklettert, sagte der Onkel spöttisch:

"Wo ist dein Gewehr?"

Verwirrt drehte sich Florian um. Da schwamm es im Graben.

"Hol's - aber dalli!" schimpfte der Onkel. "Wie willst du Krieg machen ohne Waffe?
Du machst dich ja lächerlich. Und die Feinde sind schon ganz nahe. Das wird dich
dein Leben kosten!"

Florian kauerte sich beschämt am Grabenrand nieder und versuchte,
den Stock herauszuangeln. Er drehte dem Onkel seinen Rücken zu.

"Ich spiele jetzt einen von den Feinden", sagte der Onkel.

"Warte einen Augenblick", jammerte Florian, "ich muß erst mein Gewehr haben -"

Aber da rief auch schon der Onkel: "Hände hoch!" und hielt seinen Stock
im Anschlag. Florian fuhr erschrocken herum.

"Hände hoch - wird's bald?" donnerte der Onkel. "Meinst du, ich warte,
bis du mich umbringst? Meinst du, ich laß mir die gute Gelegenheit entgehen, dich zu erledigen?"

"Nein", rief Florian, "ich nehm die Hände nicht hoch. Ich will nicht der Verlierer sein!"

Und er stürzte sich auf den Onkel, der in diesem Augenblick "paff!" sagte, und trommelte ihm mit beiden Fäusten auf der Brust herum.

"Was soll das?" fragte der Onkel. "Du bist tot. Du bist mir direkt ins Gewehr gelaufen. Laß dich fallen. Du bist jetzt eine Leiche, und ich werde dir deine Stiefel von den Füßen zerren,
weil ich sie brauchen kann."

Aber Florian schrie schrill: "Ich bin nicht tot! Ich bin nicht tot!
Und jetzt mach ich dich tot!"

Da klemmt sich der Onkel sein Gewehr zwischen die Knie, packte mit seiner einzigen
Hand den Jungen am Kragen und warf ihn mitten in die Brennesselbüsche
zwischen Weg und Grabenrand. Florian heulte vor Schmerz. Nicht nur die Arme
brannten. Auch über das Gesicht hatten die Nesseln gepeitscht.

"Das ist unfair!" schrie er wutentbrannt.

"Meinst du, im Krieg ginge es fair zu?" fragte der Onkel, dem die
nasse Hose an den Beinen klebte. "Wenn du's fair haben willst, mußt
du was anderes spielen. Im Krieg sucht nur einer den anderen fertig zu
machen, egal wie."

"Und außerdem bist du viel stärker als ich", heulte Florian.

"Im Krieg ist immer einer stärker als der andere. Du hättest vorhin
gut daran getan dich zu ergeben. Dann hättest du dir alles weitere erspart."

"Aber dann hätte ich doch verloren!" sagte Florian.

"Alle, die sich in den Krieg einlassen, verlieren, auch wenn es bei manchen so aussieht, als hätten sie gesiegt", sagte der Onkel. "Und jetzt lauf um dein Leben, wenn du unbedingt weiterleben willst. Die Panzer kommen."

"Hilf mir aus den Brennessel raus", bat Florian matt.

"Wollten wir nicht echten Krieg spielen?" fragte der Onkel. "Renn, so schnell du kannst!"

Die Stiefel scheuerten, die Hose klebte. Zwischen den Beinen wurde die Haut wund.

"Ich kann nicht mehr, Onkel Bernhard!" jammerte Florian.

"Du wirst schon noch können"; ächzte Onkel Bernhard,
"wenn ich dir sage, daß ich jetzt wieder ein Feind bin und versuche,
dir mit dem Gewehrkolben den Schädel einzuschlagen. Renn - ich komme!"
Und er schwang seinen Stock und brüllte mit verzerrtem Gesicht:
"Gib mir meinen Arm wieder, du verdammter Hund!"

Florian erschrak. So hatte sein Onkel noch nie ausgesehen: wie ein wildes Tier - eine Bestie!

Er begann zu rennen. In einer morastigen Mulde verlor er einen Stiefel. Er wagte nicht stehenzubleiben. Er lief auf bloßen Socken weiter, trat auf spitze Zweige, auf Reisig, auf Äste. Vor Schmerz schrie er ab und zu laut auf.

Hinter sich hörte er den Onkel immer näher keuchen. Kopflos vor Schreck stürmte er in das dornige Dickicht hinein, das vor ihm lag, und spürte, wie seine Hose hängenblieb und riß, die Sonntagshose. Dann verlor er den Zweiten Stiefel und trat in Dornen. Er hörte sich wie einen Hund aufjaulen. das Herz klopfte ihm bis in den Hals.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er den Onkel nicht mehr hinter sich keuchen hörte. Hastig schaute er sich um. Kein Onkel war zu sehen. Aber dort vor dem Gestrüpp - lag dort nicht etwas in den Farben von Onkel Bernhards Hemd, grün- und gelbkariert?

Florian blieb stehen, schaute schärfer hin, kehrte unschlüssig um. Ja, wahrhaftig, dort lag Onkel Bernhard mit dem Gesicht nach unten und rührte sich nicht. Sein Arm hin ausgestreckt im Heidelbeergesträuch. Wie betäubt beugte sich Florian über ihn.

"Onkel Bernhard", flüsterte er.

Der Onkel bewegte sich noch immer nicht.

Florian strich bestürzt über sein graues Haar und bat: "Steh doch auf, Onkel Bernhard - bitte, bitte steh auf."

Aber der Onkel stand nicht auf. Da wurde Florian ganz heiß vor Schreck. Er fing an zu weinen.

"Bist du tot?" schluchzte er. "Ach bitte, sei doch nicht tot!"

Er streichelte Onkels Haar, das grüngelbkarierte Hemd, die schlaffe Hand. Er weinte immer lauter und verzweifelter. Aus der Hitze wurde Kälte. Er schlotterte. Seine Zähne klapperten vor Entsetzen.

"Du kannst doch nicht einfach tot sein", heulte er.

Da richtete sich der Onkel langsam auf und drehte sich um. In seinem Gesicht klebten Tannadeln und Moosflöckchen. Florian starrte ihn entgeistert an.

"Du lebst ja", flüsterte er.

"Nein", sagte der Onkel. "Ich bin tot. Ich bin von einer Kugel getroffen worden. Es hat mich einer erschossen, der auch Onkel von so einem Jungen ist. Es war ein netter Mensch - einer der im Frieden nie auf den Gedanken käme, jemanden umzubringen. Wollen wir weiter spielen?"

"Nein", stammelte Florian, "mir langt's."

"Mir auch", sagte der Onkel.

Schweigend suchten sie nach Florians Stiefeln. Den einen fand Florian, den anderen der Onkel. Dann machten sie sich auf den Heimweg.

"Unser Krieg hat knapp zwölf Minuten gedauert", stellte der Onkel fest.

Florian schaute erstaunt zu ihm auf. Ihm war es endlos vorgekommen.

"Wollen wir Morgen wieder Krieg spielen?" fragte der Onkel.

"Nein", antwortete Florian hastig, "keinen Krieg. Gar nichts mehr mit Krieg."

"Ich hab dich vorhin übel behandelt", sagte der Onkel. "Es ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich hab's getan, weil ich dich mag. Ich will dir begreiflich machen, wie der Krieg wirklich ist."

"Ich hab so Angst vor dir gehabt", schnaufte Florian und zog die Nase hoch. "Du hast ausgesehen wie ein Tier, als du mit dem Knüppel hinter mir hergerannt bist."

"Im Krieg werden die Menschen zu Tieren", sagte der Onkel ernst.

"Und nachher hab ich Angst um dich gehabt, weil ich dachte du seist wirklich tot -"

"Im Krieg ist so ein Tod alltäglich. Ich habe damals kaum mehr hingeschaut, wenn ich Tote am Wegrand liegen sah. Für dich soll der Tod nicht alltäglich werden. Ich will, daß du beide Arme behältst. Dich soll kein Panzer zermalmen, keine Bombe zerfetzen, kein Schuß treffen. Du und alle, die wir liebhaben, sollen unversehrt leben können. Und wenn du ein Held sein willst, findest du auch im Frieden Gelegenheit dazu."

Florian schob seine Hand in die Hand, die seinem Onkel geblieben war, und sagte: "Ich wollte, du hättest noch deine andere Hand."

"Ich hab ja noch Glück gehabt", sagte der Onkel. "Du siehst: Zur Not kann man auch mit einer einzigen Hand zurecht kommen. 60 Millionen Menschen haben im letzten Krieg ihr Leben verloren. Darunter waren sicher auch ein paar tausend solcher Jungen wie du."

Das letzte Stück des Weges schwiegen sie. Zwischen Koppelzaun und Hof sagte der Onkel: "Ich glaube, deine Mutter bekäme einen Schreck, wenn sie dich so sähe. Warte hier, bis ich ihr alles erklärt habe. Ich fürchte, sie wird wütend auf mich sein. Sie weiß ja nichts vom Krieg. Sie ist erst nach dem Krieg geboren worden."

"Ich weiß schon, was sie sagen wird!", meinte Florian.

"Das arme Kind. Es kann eine Lungenentzündung bekommen!" Und was für ein Jammer um Hemd und Hose!"

"Ich werd ihr versprechen, dir ein neues Hemd und eine neue Hose zu kaufen", sagte der Onkel, "und ein großes Paket Papiertaschentücher. Das ist mir die Sache wert. Wenn ich pfeife, ist das Donnerwetter vorbei, dann kannst du kommen."
Als der Onkel ein paar Schritte gegangen war, rief ihm Florian nach: "Danke, daß du mir den Krieg gezeigt hast!"

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